Jaron Lanier: Sagt Ade zu Social Media

Will Jaron Lanier uns die Social Media madig machen? Ist er gar ein Trittbrettfahrer, der schnell noch einen Kübel Dreck auf den sowieso schon beschmutzten und etwas entgleisten Social-Media-Wagon werfen will? Will der Mann mit den auffälligen Dreadlocks uns seine radikale Richtschnur als Lesezeichen in sein neues Buch „Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst“ legen?

Tatsächlich will der mit zwei Ehrendoktorwürden hochdekorierte Informatiker, Silicon-Valley-Kenner und Tech-Pionier nichts weniger, als dass wir den Delete-Account-Button für all unsere Social-Media-Konten drücken. Und zwar sofort.

In seinem jüngsten Buch entwickelt das Multitalent zehn Thesen dazu, warum wir alle am besten sofort mit Facebook, YouTube, Instagram, Snapchat und Co. brechen sollten. Und er schafft ein Akronym, das eingängig zeigen soll, wie gefährlich Social Media für uns und wie lukrativ sie für die Betreiber dieser Plattformen sind.

Oh my Bummer!

Das von Lanier genutzte Akronym Bummer könnte man auf Deutsch (auch) mit Horrortrip übersetzen, einem, der dem Konsum von Halluzinogenen geschuldet ist. Denn Lanier ist davon überzeugt, dass Social Media wie Drogen wirken – weil sie abhängig machen, Realitäten vorgaukeln und damit das Verhalten der User wie auch ganzer Gesellschaften nachhaltig und langfristig modifizieren.

Der Begriff Bummer setzt sich aus den Wörtern Behaviours of Users Modified, and Made into an Empire for Rent zusammen. Ins Deutsche sinngemäß übertragen, könnte man es „Verhaltensweisen von Nutzern, die verändert und in ein Reich verwandelt werden, in dem praktisch alles auf Pump basiert“ nennen. Und damit sind wir praktisch mitten im Eruptionszentrum von Laniers Wut auf die Social Media. Denn Bummer, so der Autor, sind gefährlich, weil sie irgendwie unterschwellig wirken. Es sind statistische Maschinen, die in irgendwelchen Rechenzentren „wohnen“ und von dort aus über das Verhalten von Milliarden von Menschen schalten, walten – und schlimmer noch – deren Daten verwalten. Bummer sind ein wenig wie der Klimawandel. Auch diesem kann man nicht für jeden verheerenden Wirbelsturm verantwortlich machen. Doch die Tatsache, dass der Klimawandel existiert, steigert das Risiko, dass Wirbelstürme vermehrt und stärker auftreten.

Die Mechanik der Bummer

Woraus genau aber bestehen nun diese Bummer und welche ihrer Bestandteile sorgen dafür, dass diese statistischen Maschinen den Lauf der Welt über Feeds, Friends, Likes, Shares und andere Formen von Social-Media-Kommunikation sowie Partizipation steuern und verändern? Um das zu erklären, buchstabiert Jaron Lanier das kleine Abc der Bummer-Maschinen.

Aufmerksamkeitsmaschinerie

Bummer, so Jason Lanier, speisen sich aus der Tatsache, dass sie unterschiedliche Menschen auf einer Plattform zusammenbringen, auf der die einzige Belohnung (und vor allem Entlohnung) für den Einzelnen die Aufmerksamkeit der Anderen ist. Und da nun einmal viele Menschen in den Social Media unterwegs sind, muss man sich als Einzelner eben stark behaupten, um diese Aufmerksamkeit und damit letztlich auch eine Art „Bezahlung“ zu erhalten. Wer also am lautesten, krassesten und am häufigsten beleidigt, hat zumindest die Illusion, öfter und besser wahrgenommen zu werden.

Überwachungsinseln

Social Media sind wie Goerge Orwells „1984“ – nur noch gruseliger. Denn für die Plattformen gilt nicht nur Big brother is watching you, sondern auch, dass sie permanent auf der Suche nach Daten sind, die wir als Nutzer unbewusst, beiläufig aber auch wissentlich und indifferent fallen lassen – bei unseren Suchen, in Chats, bei dem, was wir hochladen, teilen und kommentieren. Daraus wiederum errechnen die Bummer Wahrscheinlichkeiten dessen, was und wen wir mögen und was wir lesen, sehen und hören wollen. Insofern werden wir laut Lanier nicht nur in Echtzeit, sondern sogar in der Zukunft überwacht, dessen Drehbuch weniger wir als vielmehr die Social Media federführend schreiben.

Content Kakophonie und Verhaltenssteuerung

Auch die Tatsache, dass Social Media dafür sorgen, dass praktisch jeder nur das sieht, was die Algorithmen aufgrund der Analyse des Verhaltens als sehenswert errechnet haben, stößt Lanier bitter auf. So nämlich bleibt jeder irgendwie in seiner Blase gefangen und kann nur schwer entkommen, da die Bummer ja erreichen wollen, dass man so lange wie möglich auf der Plattform und in seinem Wohlfühl-Feed verweilt. Dadurch wiederum bekommt man natürlich umso weniger von dem mit, was sich außerhalb dieser Netzwerke abspielt.
Umso länger man dort unterwegs ist, umso mehr lernen die Bummer über jeden einzelnen. Und umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, mit polarisierenden und den individuellen wunden Punkt treffenden Inhalten konfrontiert zu werden, weil vor allem diese starke Emotionen entfachen, die in Kommentaren und anderen Handlungen in den Social Media entladen oder geteilt werden wollen.

Auf Kosten der Nutzer

Was Jason Lanier so richtig auf die Palme bringt, ist die Tatsache, dass das Geschäftsmodell der Social Media darauf beruht, sich die Daten der Nutzer kostenlos abzugreifen, um damit dann richtig viel Geld zu verdienen. Dieses wiederum wird natürlich auch in weiteres Wachstum – also u.a. auch in den Kauf anderer Unternehmen – gesteckt, was wiederum dazu führt, dass noch mehr kostenlose Daten von noch mehr Menschen verfügbar sind, die sich zudem auch prima zu einem noch stimmigeren und detaillierteren Profil zusammenführen lassen. Am Ende werden die Plattformen so groß, dass niemand – kein Unternehmen, kein Politiker – daran vorbei kommt. So dreht sich die Geldmaschine weiter, denn auch diejenigen, die aufgrund des Wettbewerbsdrucks glauben, nicht auf Social Media verzichten zu können, werden mitunter Geld für Kampagnen in den Social Media ausgeben.
Hinzu kommen die Publisher, die sich ihrerseits durch das Anwachsen der Plattformen selbst der Bummer-Logik anschließen. Und das wirkt sich letztlich auch auf die Qualität des Journalismus aus.

Letztlich, so Larnier, führt die Tatsache, dass bei den Social Media die Erfolgsmessung von Kampagnen und Anzeigen nicht wie bei klassischen, analogen Medien erst nach der Auslieferung, sondern praktisch ständig stattfindet. Das wiederum macht unser Verhalten zu einem Produkt. Um dieses schließlich zu bekommen und in ihrem Sinne zu verändern, stehen Unternehmen, Politiker und Parteien Schlange und zahlen den Social Media viel Geld, um zu erfahren, wo sich der beste und schnellste Zugang zur Modifikation unseres Verhaltens befindet.

Unsichtbarer Social-Vandalismus

Ein sehr großes Problem schließlich sieht Jason Lanier in der Tatsache, dass Bummer ihren Lebenssaft auch aus geisterhaften Erscheinungen ziehen – aus Bots, Künstlicher Intelligenz und den ganzen Fakes (News, Accounts, Personen, Produkttests, etc.). Diese wiederrum üben realen Gruppenzwang und Druck auf die Nutzer der Plattformen aus, weil sie an einen urmenschlichen Instinkt appellieren: An den Wunsch nach Interaktion und sei es auch nur mit Maschinen.

Ein Ende der Umsonst-Mentalität

Bereits in seinem 2013 erschienenen Buch „Wem gehört die Zukunft?“ hat der 2014 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnete Jason Lanier die sogenannte Umsonst-Mentalität angeprangert. Damals ging es ihm darum, dass nicht nur die Tech-Konzerne an den Daten der User verdienen sollten, sondern dass auch die Nutzer selbst für die Preisgabe ihrer Informationen belohnt werden sollten. Noch drastischer formuliert er es in seinem neuen Buch: „Wenn wir es nur schaffen, das Businessmodell der Social-Media-Plattformen abzuschaffen, könnten wir einen besseren Blick auf die Technologie dahinter werfen. Und die muss nicht per se schlecht oder böse sein.“

Social-Media-Accounts löschen oder einfach bewusster nutzen?

In „Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst“ geht der Tech-Pionier zweifelsohne einen energischen und drastischen Schritt. Und – auch das muss man zugeben – er liefert zumindest größtenteils gute Argumente, um als Nutzer der Plattformen wenigstens einen Moment inne zu halten und über die eigene Rolle in den Social Media nachzudenken. Andererseits sollte das Buch die Social Media niemandem generell verleiden. Vielmehr aber kann es Anstöße dazu geben, die eigenen Aktivitäten mitunter zu beschränken, die Social Media bewusster und vielleicht (daten)sparsamer zu nutzen. Auch sollten wir auf Transparenz achten und bestehen. Wir sollten versuchen zu verstehen, was mit unseren Daten passiert oder uns zumindest darüber bewusst sein, dass immer etwas (aber auch nicht immer Schlimmes) mit unseren Daten passiert, wenn wir uns auf den diversen Plattformen anmelden.