Snapchat Dysmorphophobie und die Selfitis

Man könnte etwas böswillig meinen, dass Snapchat gerade kurz nach Veröffentlichung der Geschäftszahlen des zweiten Quartals 2018 einen seiner zahlreichen und phantasievollen Lenses oder Filter gut gebrauchen könnte, um die Ergebnisse ein wenig aufzuhübschen. Denn auch wenn im Vergleich zum Vorjahreszeitraum die Anzahl der täglichen aktiven Nutzer (Daily Active Users, DAU) um 8 Prozent auf 188 Millionen gestiegen ist, bedeutet dieses Plus aber dennoch ein Minus von 2 Prozent verglichen zum ersten Quartal 2018, wo Snapchat immerhin noch 191 Millionen DAUs zählte.

Dennoch stieg der durchschnittliche Umsatz pro User im zweiten Halbjahr 2018 um 34 Prozent auf 1,40 US-Dollar, verglichen zu 1,05 US-Dollar in Q2 2017. Nicht zu vergessen: 11 Snapchat Video Shows erreichten ein durchschnittliches monatliches Publikum von über 10 Millionen (Q1 2018: 7 Millionen). Also schwer zu sagen, ob insgesamt sinkende Nutzerzahlen die Selbstwahrnehmung von Snapchat wirklich beeinflussen oder ob Snap-CEO Evan Spiegel der ganzen Ziffernzauberei eine Lense vorschiebt und nach vorne schaut. In jedem Fall aber bleibt die Selfie-App erfolgreich, wenn auch weniger als Instagram, und beliebt – und das in einem fast schon ungesunden Maße.

Leben durch die Linse

Forscherinnen der Boston University School of Medicine berichteten in dem Fachartikel „Selfies — Living in the Era of Filtered Photographs“ von einer pathologischen Erscheinung, die sie Snapchat Dysmorphophobie nennen. Immer mehr junge Menschen, so die Wissenschaftlerinnen, würden Schönheitschirurgen aufsuchen, um nach einer entsprechenden OP genauso fein gefiltert auszusehen wie auf ihren Snapchat- oder auch Facetune-Selfies. Umfragen unter plastischen Chirurgen in den USA zufolge gaben 55 Prozent der befragten Ärzte 2017 an, genau darum gebeten worden zu sein. 2015 waren es noch 42 Prozent der Chirurgen, die berichteten, dass Patientinnen und Patienten sich unters Messer legen wollten, um danach genauso volle Lippen, kleinere Nasen und symmetrische Gesichter zu haben, wie auf ihren gefilterten Selfies.

Diese Social Media bedingte Störung der Wahrnehmung des eigenen Körpers, so die Forscherinnen, sei ein Ausdruck dessen, dass wir immer mehr den Bezug zur Realität, die durch ebensolche Filter für uns und andere verzerrt wird, verlieren und Idealen des Aussehens hinterherrennen, die wir auf natürliche Weise niemals erreichen können.

Selfitis: Nicht ansteckend, aber alarmierend

Eng mit der Snapchat Dysmorphophobie verbunden scheint sich ein anderes Social Media bedingtes neues Krankheitsbild herauszukristallisieren: die Selfitis. Auch oder gerade weil es sich bei diesem Begriff ursprünglich um einen Hoax handelte, gingen Forscher der Nottingham Trent University und der Thiagarajar School of Management in Indien dem Phänomen nach. Untersucht wurden junge Studentinnen und Studenten indischer Universitäten. Dass der Fokus dabei auf den Subkontinent fiel, erklären die Wissenschaftler damit, dass Indien die verhältnismäßig meisten Facebook-Nutzer aufweist und dass dort im Verhältnis weltweit die meisten Menschen beim Versuch sterben, Selfies in gefährlichen Situationen zu machen. 76 Menschen kamen 2016 dabei in Indien ums Leben, während es weltweit insgesamt 127 waren.

Um die Selfitis konkreter und fassbarer zu machen, stellte das Forscherteam den Probanden 20 Statements vor, anhand derer sie sich praktisch orientieren und einordnen konnten und mithilfe derer auch entsprechende Diagnosen getroffen werden konnten. Bei diesen Aussagen ging es beispielsweise darum, dass man Selfies macht, um sich in der eigenen Umgebung besser zu fühlen, um in einen gesunden Wettbewerb mit Freunden und Kollegen zu treten, um große Aufmerksamkeit in den Social Media zu erlangen oder eben auch, um durch Filter besser (als andere) auszusehen.

Am Ende wurden auf Basis von Interviews und entsprechender Einordnung der Aussagen und Selfi-Frequenz mehrere Graduierungen der Selfitis herausgearbeitet.

Selfitis in drei Ausprägungsstufen

Die schwächste Ausprägung ist die der Borderline Selfitis, bei der sich die Personen quasi am Scheideweg bewegen. Sie machen mindestens dreimal täglich ein Selfie, posten diese aber nicht. Eine Leidensstufe weiter sind die Akuten. Auch sie nehmen dreimal täglich das Smartphone in die Hand, um sich selbst abzulichten, posten aber im Gegensatz zu den Borderlinern jede einzelne Aufnahme in den Social Media. Die Chronischen schließlich spüren rund um die Uhr ein unstillbares Verlangen danach, Selfies zu machen und davon mehr als sechs pro Tag auf Facebook, Snapchat, Instagram und Co. zu veröffentlichen.

Kritikpunkte an der Studie finden sich unter anderem darin, dass sie nicht repräsentativ ist. Zudem, so einige Bedenken, könnte die Selfitis letztlich nur eine von vielen anderen Ausdrucksformen fehlenden Selbstbewusstseins, einer gestörten Wahrnehmung des eigenen Ichs und der verzweifelten Suche nach Aufmerksamkeit und Selbstbestätigung sein. Schließlich bieten die Social Media eine vermeintlich große und weitreichende Bühne und ein entsprechend großes Publikum, um die Selbstdarstellung via Selfies so zu gestalten, dass eine wie auch immer geartete Resonanz entsteht.

Womöglich greift sogar der Begriff Selfitis bzw. der Versuch, den Drang nach Selfies auf Störungen der Wahrnehmung der eigenen Persönlichkeit zu reduzieren, zu kurz. Und zu guter Letzt: Gerade Snapchat speist seine Attraktivität zum Großteil darauf, Selfies mit Filtern verändern und sich sowie anderen damit eine alternative Realität vorspiegeln zu können. Eine Realität, die in gewisser Weise in den Social Media entsteht, doch offensichtlich nicht nur dort Bestand hat und weiter ins wirkliche Leben strahlt. Mit guten aber eben auch weniger guten Auswirkungen auf die eigene Wahrnehmung.